Kairos Prime



Kapitel 9

Unter der Falltür

Der Turm bot kaum noch etwas. Zwischen den verstreuten Strohballen und den umgestürzten Krügen fanden sie nur das Übliche: zerlumpte Decken, stumpfe Messer, ein paar Münzen, deren Glanz schon lange vergangen war. Die letzten Bewohner hatten hier nichts zurückgelassen, was mehr wert war als ein hungriger Abend.

Tsaluah schritt langsam durch das Erdgeschoss. Es schien jeden Winkel zu prüfen, mit Blicken, die tiefer reichten als die Augen der Gefährten. Schließlich blieb es stehen und legte eine Krallenhand auf eine grobe Truhe, die halb im Schatten stand.

„Diese wurde seit Jahren nicht bewegt,“ sagte es. „Doch sie blockiert etwas darunter.“

Fryda und Zoltian warfen einander einen Blick zu, dann stemmten sie gemeinsam die Kiste beiseite. Mit einem dumpfen Scharren rutschte sie über die Dielen, und darunter kam eine Falltür zum Vorschein, eisenbeschlagen, der Griff rostig, aber noch brauchbar.

„Ein Eingang,“ murmelte Holdine, die sofort das Schwert fester umfasste. „Hinunter.“

Die Luke ächzte, als sie aufgezogen wurde. Darunter klaffte eine steile Holzleiter, die in Finsternis führte. Ein fauliger, feuchter Atem drang ihnen entgegen, modrig wie altes Laub.

„Ohne Licht kommen wir nicht weit,“ stellte Krexila trocken fest.

Cjendadz nickte und entzündete eine Fackel. Der Schein flackerte unruhig, warf lange Schatten über die Wände des Turmzimmers. Dann beugte er sich über die Luke, das Feuer in der Hand, und die Flammen zogen sich, als mieden sie die Tiefe.

Einer nach dem anderen stiegen sie hinab. Das Holz knarrte unter ihrem Gewicht, doch hielt. Der Gestank wurde stärker, die Luft klamm.

Unten endete die Leiter in einem niedrigen Raum aus groben Steinen, deren Fugen vor Feuchtigkeit glänzten. Wasser tropfte irgendwo, ein leises, gleichmäßiges Klicken.

Direkt vor ihnen stand eine schwere Holztür, dicke Riegel von außen vorgeschoben – als sei nicht ein Raum verschlossen, sondern etwas darin eingesperrt.

Zu ihrer Linken öffnete sich ein dunkler Durchgang. Ein Hohlraum, so schwarz, dass selbst der Fackelschein nur wenige Schritte weit reichte.

„Wohin zuerst?“ fragte Zoltian leise und drehte das Messer in den Fingern.

Der eiserne Riegel ließ sich erstaunlich leicht bewegen. Holdine runzelte die Stirn, als das schwere Metall mit einem dumpfen Klack zur Seite glitt – zu leicht für eine Tür, die etwas wirklich Gefährliches hätte bannen sollen.

Als sie die Tür öffnete, schlug ihnen feuchte, abgestandene Luft entgegen. Im Licht der Fackel zeichnete sich ein schmaler Raum ab, kaum größer als eine Zelle im Kerkerhaus. Die Mauern waren nass und von Moos überzogen.

Darin hockten zwei Gestalten: ein junger Bursche, kaum mehr als ein Dorfschmiedlehrling oder Knecht, die Augen weit aufgerissen, als hätte er seit Tagen nur auf den Tod gewartet – und neben ihm eine Frau von mittlerer Größe, die sich an der Mauer aufrichtete, als das Licht sie traf.

Ihr Anblick verriet, dass sie schon lange hier geschmachtet hatte: bleiche Haut, die Kleider verschmutzt und in Fetzen, doch die Haltung aufrecht, beinahe trotzig. Ihre Züge waren herb, aber nicht ohne Schönheit – der Ausdruck einer, die das Leben nicht als Geschenk, sondern als Herausforderung nimmt.

„Bei allen Schwellen…,“ murmelte Fryda und senkte ihr Schwert. „Das sind keine Räuber.“

Die beiden Gefangenen waren mit schweren Eisenketten an Ringe in der Mauer geschmiedet. Zoltian trat vor, ließ das Licht der Fackel über die Schlösser tanzen und schnalzte mit der Zunge. „Saubere Arbeit. Aber nicht unüberwindbar.“

Mit geübten Fingern holte er sein Werkzeug hervor, während der Bursche ihn fassungslos anstarrte. „Ihr seid… nicht von ihnen?“

„Nicht im Geringsten,“ knurrte Fryda. „Und wenn du noch einmal schreist, glaubt es uns vielleicht auch der Rest des Waldes.“

Ein Klicken, und das erste Schloss sprang auf. Die Kette klirrte, fiel zu Boden. Der Junge sank fast in Krexilas Arme.

Dann wandte Zoltian sich der Frau zu. Sie musterte ihn mit einem Blick, der für eine Gefangene erstaunlich stolz wirkte, und als das Schloss aufsprang, trat sie einen Schritt vor, so schwankend, dass Holdine sie unwillkürlich stützte.

„Mein Dank,“ sagte sie mit einer Stimme, die geschult klang, höfisch, voller Anmut. „Ich bin Comtessa Morinde von Neral-Baliiri, Edle aus dem Königreich Rhavarn an der Westküste des Kontinents Keloria.“

Cjendadz riss die Augen auf, und selbst Fryda blinzelte erstaunt. Eine Edle? In diesem Loch?

Morinde verneigte sich leicht, so gut es ihre Schwäche erlaubte, und fuhr fort: „Diese Räuber hielten mich seit drei Monden hier gefangen, in der törichten Hoffnung auf Lösegeld. Ein unglückseliger Irrtum.“

„Irrtum?“ Krexila zog eine Braue hoch.

Die Frau lächelte matt, doch in ihren Augen lag etwas Kühnes. „Sie nahmen mir einen Siegelring ab, den ich… unvorsichtigerweise an mich gebracht hatte. Für sie war es der Beweis, ich sei eine Dame von Stand. Je öfter ich ihnen erklärte, dass ich eigentlich ihrer eigenen Zunft näherstehe, umso weniger glaubten sie mir.“

Zoltian lachte rau. „Eine Streunerin im Kleid einer Edlen. Wie ironisch.“

Holdine jedoch blickte sie aufmerksam an. Etwas an Morindes Worten ließ Zweifel aufkommen – nicht genug, um sie zu widerlegen, aber genug, um ihr Bild nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Doch sie schwieg.

Tsaluah trat näher, die Krallen leise auf dem Stein, und neigte den Kopf. „Sie spricht mit zwei Stimmen,“ murmelte es, als lausche es nicht nur den Worten, sondern den Fäden dahinter. „Wahrheit und Täuschung gehen in ihr Hand in Hand.“

Morinde senkte den Blick, doch ihr Lächeln blieb. „Ich verdanke euch mein Leben. Ob ihr mir glaubt, liegt bei euch. Doch ohne eure Hilfe hätte ich die Sonne nie wieder gesehen.“

Sie schwankte, und Holdine musste ihren Arm fester um sie legen. „Ihr braucht Ruhe,“ sagte die Ordensschwester ernst.

„Und einen sauberen Mantel,“ brummte Fryda. „Sonst fällt ihr draußen schneller auf als jeder Räuber.“

Der Dorfbursche schluchzte leise, während er sich an Krexilas Schulter klammerte. Morinde hingegen hielt sich aufrecht, so schwach sie auch war. Ihr Auftreten blieb das einer, die nie gelernt hatte, sich kleinzumachen.

Die Ketten lagen nun am Boden, kalt und nutzlos. Doch in den Schatten des Kellers wartete noch mehr – die dunkle Öffnung zur Linken, ein Gang, der ins Ungewisse führte.

Die Gefährten stützten die beiden Befreiten die knarrende Leiter hinauf. Der Dorfbursche klammerte sich zitternd an Krexila, während Fryda ihn von hinten drängte, nicht ins Stocken zu geraten. Morinde dagegen versuchte, aufrecht zu gehen, doch jeder Schritt ließ sie wanken. Holdine hielt sie fest, die Hand wie ein Schwur an ihrem Arm.

Oben im Erdgeschoss schlug ihnen wieder der vertrautere Geruch von Rauch und kalter Asche entgegen. Die Fackel, die Zoltian hochhielt, ließ das Gemäuer trutziger wirken als zuvor. Tsaluah trat aus dem Schatten. Seine Augen glommen ruhig, doch die Federn an seinen Armen sträubten sich, als hätten sie die Schwere der Finsternis unter dem Turm gespürt.

„Bringt sie hinaus, wenn ihr den Weg verlasst,“ sagte Holdine und sah das Wesen fest an.

Tsaluah neigte den Kopf. „Ich bleibe bei ihnen. Was unten ist, kennt weder Mauer noch Schloss – doch hier, im Licht, sind sie sicherer.“

Der Dorfbursche ließ sich erschöpft auf den Boden sinken, Tränen der Erleichterung im Gesicht. Morinde dagegen richtete sich trotz ihrer Schwäche auf, strich über die Risse ihres Kleids und versuchte, Haltung zu bewahren. „Ich werde warten,“ sagte sie, die Stimme geziert, „und hoffe, ihr kehrt bald zurück.“

Zoltian grinste spöttisch. „Wir kehren immer zurück. Nur nicht immer alle.“

„Genug,“ schnitt Fryda ihm das Wort ab und wandte sich der Luke zu. Der offene Schlund gähnte im Boden, die Dunkelheit darunter lauerte.

Cjendadz presste die Fackel fester an sich, als könnte sie ihm Mut spenden. „Da unten... wartet etwas. Und es weiß längst, dass wir kommen.“

Keiner widersprach.

Die beiden Gefangenen blieben im Erdgeschoss zurück, zusammen mit Tsaluah. Die übrigen stellten sich erneut an die Luke, die Fackel flackerte über der steilen Leiter. Der Gang zur Linken wartete – still, dunkel, unbestimmt.

Und der Turm schien zu atmen.