Kapitel 10
Der Gang in die Tiefe
Der Atem des Turmes hing noch in den Mauern, als sie die Gefangenen ins Erdgeschoss gebracht hatten. Das Feuer der Räuber war längst heruntergebrannt, doch im Licht der Fackeln wirkte der Raum immer noch wie eine Falle, die nur auf den nächsten Schritt wartete.
Der Dorfbursche, den sie befreit hatten, zögerte lange, ehe er schließlich die Stimme erhob. „Die Räuber…“ Er schluckte, sah zur Luke hinab. „Sie haben den Gang dort unten gefürchtet wie den Tod selbst. Nie ist einer von ihnen hinein. Wenn einer den Fehler machte, nur davon zu sprechen, verging ihm jedes Wort im Halse.“
Holdine sah ihn scharf an. „Und doch haben sie euch hierher gebracht. Durch diese Luke, die seit Jahren nicht mehr bewegt worden war?“
Der Junge nickte hastig. „Nein… anders. Es gibt einen Zugang, irgendwo an der Mauer draußen. Ich weiß nicht wo, sie haben uns die Augen verbunden. Aber die Kiste da oben – die haben sie nie angerührt. Nur die Luke, nie.“
Fryda knurrte. „Also sind noch mehr von ihnen irgendwo in diesen Mauern.“
Zoltian grinste schief, aber ohne Freude. „Oder sie waren klug genug, sich zu verkriechen. In Löchern, die wir noch nicht gefunden haben.“
Später, als sie einen der bewusstlosen Banditen wieder zu sich gebracht hatten, wagte Holdine die Frage: „Wohin führt der Gang unter dem Turm?“
Der Räuber wurde aschfahl. Sein Blick wich dem ihren aus, er begann zu zittern, schlug hastig ein Zeichen in die Luft – das Symbol des Dalmor, grob, wie man es von Bauern kannte, nicht von Priestern. „Nicht… nicht dorthin. Da ist das Böse! Das Böse selbst!“
Fryda packte ihn am Kragen, zog ihn hoch. „Rede klar!“
Doch er schüttelte nur den Kopf, Tränen in den Augen. „Wer dorthin geht, ist des Todes!“ Mehr war ihm nicht zu entlocken, nur ein Stottern, ein Schluchzen, das die Worte überlagerte.
Krexila löste Frydas Griff, schob den Mann wieder zu Boden. „So viel Angst, in einem, der gestern noch dachte, er könne uns im Schlaf erschlagen.“
„Das macht es nur schlimmer,“ murmelte Cjendadz, der die Fackel fester hielt. „Denn Angst… ist manchmal der wahrste aller Ratgeber.“
Ein Schauer ging durch die Gruppe. Unten wartete der dunkle Gang, unergründlich und schwarz, und selbst die Räuber, die hier Zuflucht gesucht hatten, wagten ihn nicht zu betreten.
Holdine legte die Hand an ihr Schwert. „Dann gehen wir dorthin, wo sie sich fürchten. Denn wenn dort wirklich das Böse lauert – dann ist es unsere Pflicht, ihm entgegenzutreten.“
Die Fackel flackerte, als wolle sie widersprechen. Doch der Gang wartete.
Sie waren zu sechst, als sie die Luke im Erdgeschoss erneut öffneten und die knarrende Leiter hinabstiegen.
Diesmal blieb niemand zurück: weder Morinde noch der Dorfbursche hätten die Stille ertragen können, die unten auf sie lauerte – und Tsaluah hatte mit kühlem Nachdruck darauf bestanden, dass auch es den Weg begleiten müsse.
Der Gang hinter der Falltür war feucht und schmal. Schon nach wenigen Schritten standen sie an einer glitschigen, steinernen Treppe, die sich steil hinabwand. Fackelschein zuckte über die feuchten Stufen, ließ sie glänzen, als lägen Schnecken darauf. Jeder Schritt war ein Risiko, das Gleichgewicht zu verlieren.
„Langsam,“ mahnte Holdine, als Fryda ungeduldig voranstürmen wollte. „Wenn einer fällt, reißt er uns alle mit.“
Unten endete die Treppe in einem schmalen Gang, der sich endlos geradeaus zog. Das Feuer der Fackeln reichte nur wenige Schritte weit, dahinter begann die Finsternis, dicht wie Stoff.
Die Luft war modrig und abgestanden. Jeder Atemzug fiel schwer, als legte sich ein unsichtbares Gewicht auf die Brust. Kalte Tropfen fielen von der Decke, benetzten ihre Gesichter, ließen Krexila einmal zusammenzucken, als ein Tropfen wie Eis ihr in den Nacken rann.
„Es riecht, als wäre hier seit hundert Jahren niemand mehr gegangen,“ murmelte Zoltian und verzog das Gesicht.
„Vielleicht gibt es einen Grund dafür,“ entgegnete Cjendadz leise, dessen Finger unruhig Zeichen in die Luft malten, als könne er Bindungen ertasten, die sich jeder Erklärung entzogen.
Die Wände glänzten von schleimigen Flechten, der Boden war tückisch. Mehr als einmal mussten sie sich gegenseitig abstützen, um nicht auszurutschen. Vorsichtig, Schritt um Schritt, tasteten sie sich voran, bis der Gang unvermittelt steil anstieg.
„Wir gehen unter dem Tümpel,“ flüsterte Krexila, die Hand an der feuchten Wand. „Ich spüre es. Das Gewicht des Wassers über uns.“
Schließlich öffnete sich der Gang in eine Kammer – weitläufig, still, unerwartet trocken. Die stickige Luft lag schwer, aber kein Tropfen fiel mehr. Staub bedeckte den Boden so hoch, dass ihre Schritte Spuren hinterließen wie im Schnee.
„Das… ist nicht natürlich,“ flüsterte Holdine, als sie die Fackel hob.
An der gegenüberliegenden Wand erkannten sie eine Tür, doch sie war nicht einfach verschlossen. Alte Stühle, Truhen, Holzpfähle und sogar Eisenstangen waren davor aufgetürmt, als hätte jemand um jeden Preis verhindern wollen, dass sie jemals geöffnet würde.
„Eine Barrikade,“ stellte Fryda fest und stieß mit der Schwertspitze gegen ein Brett. „Von dieser Seite. Aber warum?“
Noch unheimlicher aber waren die Symbole, die in das Holz der Barrikade geritzt waren. Ungeschickt, mit zitternder Hand, hatte man Zeichen eingeritzt, die an die alten Schutzrunen erinnerten – grob, unförmig, aber mit verzweifelter Entschlossenheit.
„Bauernzeichen,“ murmelte Krexila. „Abwehr gegen Unheil.“
„Oder gegen Zauberei,“ fügte Cjendadz hinzu. Er beugte sich vor, die Hand knapp über den Runen. „Die Bindungen hier sind… verdreht. Als hätte jemand versucht, das Böse mit bloßen Fingern zurückzuhalten.“
Tsaluah trat näher, die Augen im Fackelschein matt leuchtend. „Sie stammen von Priestern, oder von Menschen, die deren Riten nachahmten. Doch wer sie ritzte, wusste: hinter dieser Tür schläft etwas, das nicht geweckt werden darf.“
Ein Frösteln lief durch die Gruppe. Die Barrikade wirkte nicht mehr wie eine Schutzmaßnahme – sondern wie eine Warnung.