Kapitel 12
Der Gang der Knochen
Sie tasteten sich vorwärts. Der Gang hinter der Pforte war eng und feucht, die Fackeln warfen lange Schatten an die Wände, die sich von Schimmel und Flechten dunkel verfärbt hatten. Wasser sickerte zwischen den Steinen hervor, sammelte sich in Pfützen, die im Licht trügerisch glitzerten.
Die Luft war stickig, modrig, so schwer, dass jeder Atemzug brannte. Tsaluah bewegte sich unruhig, die Federn gesträubt. „Hier unten herrschen Bindungen, die sich selbst widersprechen,“ flüsterte es. „Das ist... widernatürlich.“
Sie gingen weiter, den Blick nach vorn, die Hände an Waffen und Griffen. Das leise Knistern, das sie schon zuvor gehört hatten, war nun deutlicher – als knisterte etwas Verbranntes, längst erkaltet, aber nicht tot.
Plötzlich stolperte Fryda. Metallisches Klirren polterte durch die
Finsternis, begleitet von einem Krachen, das wie ein Schrei wirkte. Im
Fackelschein wurde sichtbar, was den Weg bedeckte:
Ein Haufen menschlicher Gebeine, pyramidenförmig an die Wand geschichtet.
Knochen, Schädel, zerfressene Rüstungsstücke, dazwischen rostige Klingen,
die bei Frydas Tritt krachend zerbarsten.
„Bei allen Schwellen…“ Krexila wich instinktiv zurück, doch der Gang ließ keinen Raum.
Das Geräusch hallte wider, als wollten die Mauern selbst mitklagen. Der Staub der Jahrhunderte löste sich und stieg wie Nebel in die Höhe.
„Das ist kein Zufall,“ knurrte Holdine, das Schwert erhoben. „Jemand hat das so gestapelt.“
Noch während sie sprach, veränderte sich der Klang. Ein leises Schaben, von vorne und hinten zugleich, wie Metall auf Stein, wie Krallen auf Glas. Cjendadz erstarrte, die Fackel hoch erhoben.
„Still!“ zischte er. „Hört ihr das?“
Das Knistern war jetzt näher, und mit ihm ein Scheppern, als ob sich Knochen gegeneinander bewegten. Im flackernden Licht sahen sie, wie einzelne Glieder im Haufen verrutschten, wie Schädel sich drehten, als hätten sie Augen.
Dann hob sich aus dem Chaos die erste Gestalt. Knochen verbanden sich, Schulter an Schulter, als würde ein unsichtbarer Faden sie ziehen. Eine Hand griff nach einer rostigen Klinge, der Schädel grinste leer, doch in den Augenhöhlen glomm ein rotes Licht.
Und nicht nur einer. Zwei weitere Körper formten sich, vorn und hinten im Gang zugleich.
„Untote,“ hauchte Zoltian. Sein Grinsen war verschwunden.
„Bindungen, verdreht bis ins Mark,“ ergänzte Tsaluah, dessen Stimme schneidend klang. „Hier kämpft ihr nicht gegen Fleisch – sondern gegen das, was nicht sterben will.“
Die Skelette hoben ihre Waffen. Das Schaben ihrer Schritte füllte den Gang.
Holdine trat vor, die Klinge erhoben. „Dann lassen wir sie endlich ruhen.“
Das Knistern verwandelte sich in ein Scheppern. Knochen klirrten gegeneinander, als würden sie von unsichtbaren Händen zusammengesetzt. Die roten Lichter in den Schädeln flackerten auf, gierig, unheilig.
„Vorne und hinten!“ rief Krexila und riss ihren Bogen von der Schulter, nur um sofort festzustellen, dass die Enge des Ganges ihr keine Chance ließ, zu schießen. Sie zog das Kurzschwert – viel zu leicht für Knochen, aber besser als nichts.
Die Skelette stürmten vorwärts, rostige Klingen erhoben.
Holdine stand vorne, die Fackel im Rücken, das Schwert fest in den Händen. Der erste Schlag prallte auf ihre Klinge, die Funken stoben, als Metall auf Metall traf. Sie drückte zurück, doch die kalten Knochen gaben nicht nach. „Sie fühlen keinen Schmerz!“ rief sie, während sie den Schädel ihres Gegners mit der Schulter rammte, um ihn auf Abstand zu halten.
Fryda sprang sofort neben sie, Schwert gegen Schwert. Ihre Klinge krachte auf den Knochenarm des zweiten Skeletts, zerschlug ihn in Splitter. Doch anstatt zu fallen, griff das Ding weiter an, die linke Hand ausgestreckt, die Finger wie Krallen. „Bei allen Schwellen – sie kämpfen weiter!“ fluchte sie, riss die Klinge frei und hieb diesmal quer durch den Brustkorb. Die Knochen brachen, und das Ding zerfiel klappernd in sich zusammen.
„Eins weniger!“ rief sie, der Atem schwer, doch da hörte sie das Schaben hinter sich.
Zoltian hatte sich am Ende des Zuges aufgestellt. Die Dunkelheit dort war dichter, nur die Reflexe seines Messers blitzten auf. „Sie kommen von hinten!“ Er sprang vor, stach tief in die Rippen des nächsten Untoten. Doch die Klinge glitt zwischen den Knochen hindurch, ohne Wirkung. „Verdammt! Mein Messer reicht nicht!“
„Schlag die Knochen, nicht die Lücken!“ brüllte Fryda, ohne den Blick von ihrem Gegner zu nehmen.
Tsaluah bewegte sich dazwischen, kein Kämpfer, und doch erhoben. Die Krallenhände gruben sich in die Luft, als zöge es an unsichtbaren Strängen. Ein scharfes Kreischen erfüllte den Gang, als die Bindungen der Untoten gegen Tsaluahs Kraft rebellierten. Einer der Skelette stolperte, die Knochen lösten sich kurz, als ob die Struktur in sich zerfallen wollte – doch dann fanden die roten Lichter wieder Halt, und das Gebilde erhob sich erneut.
„Ich kann sie schwächen,“ keuchte Tsaluah, „aber nicht brechen.“
Cjendadz trat nach vorn, die Fackel in der Hand, die andere ausgestreckt. „Dann halte sie still!“ murmelte er und begann, Worte zu formen. Seine Stimme hallte seltsam, als spräche sie nicht nur im Gang, sondern auch durch den Stein selbst. Ein heller Schimmer legte sich für einen Atemzug über die Knochen des nächsten Skeletts – und dann zerbarst der Schädel mit einem trockenen Knacken.
Krexila nutzte den Moment. Sie stieß mit dem Schwert vor, nicht auf den Rumpf, sondern auf die Beine. Die Knochen zerbrachen, das Ding fiel krachend um, noch immer mit den Armen fuchtelnd, bis Holdine die Klinge senkte und den Schädel spaltete.
„Hinten! Hinten!“ Zoltians Stimme überschlug sich. Er war zurückgewichen, die Schulter schon blutig, wo eine rostige Klinge ihn gestreift hatte. Zwei Skelette drängten nach, ihre Augenhöhlen wie Fackeln in der Dunkelheit.
Fryda stieß sich ab, drängte nach hinten. Ihr Schwert fuhr in einem weiten Bogen, krachte gegen den Brustkorb des ersten Angreifers und riss ihn auseinander. Zoltian packte den zweiten am Arm, drehte, und Krexila nutzte die Lücke, um ihm das Kurzschwert quer durch den Schädel zu treiben. Die Knochen zerbrachen, der Körper fiel in sich zusammen.
Schwer atmend sahen sie sich um. Vier Skelette lagen zerstört im Gang, Knochen und rostiges Eisen verstreut, Staub in der Luft.
Doch dann, im Echo der Stille, erklang wieder das Schaben. Nicht lauter, aber allgegenwärtig.
„Das war noch nicht alles,“ murmelte Cjendadz und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Tsaluah hob langsam den Kopf. „Nein. Das hier war nur die Wache.“
Und wieder knisterte es – nicht aus dem Dunkel vor ihnen, sondern auch aus den Mauern ringsum, als ob der Gang selbst Knochen gebar.
Das Schaben wurde lauter. Zwischen den Knochenresten, die sie eben zerschmettert hatten, rührte sich neues Leben. Finger griffen nach Rippen, Schädel rollten, fanden Wirbel. Es war, als ob die Wände selbst Knochen hergaben, um weitere Krieger zu formen.
„Es hat kein Ende!“ rief Krexila verzweifelt und parierte mit knirschendem Stahl einen Hieb, der sie fast an die Wand drückte.
Holdine kämpfte vorne gegen zwei Skelette zugleich, das Schwert im ständigen Schlagabtausch. Ihre Bewegungen waren präzise, aber langsamer geworden. Ein Schnitt streifte ihre Schulter, Blut tränkte die Rüstung.
Fryda schlug mit wilder Kraft, ihre Klinge zertrümmerte Schädel und Arme. Doch jedes Mal, wenn ein Körper zu Boden fiel, erhoben sich neue. Ihr Atem ging stoßweise, das Haar klebte schweißnass an der Stirn. „Wir können sie nicht alle besiegen!“ schrie sie.
Zoltian kämpfte am hinteren Ende, der Rücken längst von Kratzern gezeichnet. „Zu viele!“ Er wich aus, rammte einem Skelett das Knie weg, doch eine rostige Klinge riss ihm über den Arm.
Tsaluah stieß ein schrilles Kreischen aus, die Federn gesträubt. Bindungen zerrissen in der Luft, einzelne Skelette stolperten, fielen auseinander – doch nur für Sekunden. Das rote Glimmen in ihren Augenhöhlen erlosch nicht.
Da hörte Cjendadz plötzlich etwas. Kein Laut, kein Geräusch – ein Ziehen. Eine Linie in der Luft, die er nie zuvor gespürt hatte. Instinktiv griff er danach, wie ein Ertrinkender nach einem Ast.
Und die Welt reagierte.
Für einen Atemzug stand alles still. Der Kampf verstummte, die Knochen erstarrten, als hätte jemand unsichtbare Fäden durchtrennt. Die roten Lichter in den Schädeln erloschen gleichzeitig. Waffen fielen scheppernd auf den Boden.
Die Skelette sanken in sich zusammen – nicht langsam, sondern schlagartig, als ob jede Kraft sie gleichzeitig verlassen hätte. Der Gang war erfüllt vom Krachen zerfallender Knochen, dann herrschte Stille.
Niemand wagte, sich zu rühren. Nur das Knistern der Fackeln war zu hören.
Cjendadz stand mit erhobener Hand da, die Augen weit, der Atem stoßweise. „Ich… weiß nicht, was das war,“ flüsterte er. „Ich habe es nicht verstanden. Aber ich konnte sie… trennen.“
Tsaluah trat langsam näher, die Augen glimmten unruhig. „Du hast eine Bindung ergriffen, die nicht die deine war. Fremd – und älter als alles, was du kennst.“
„Aber sie hat uns gerettet,“ keuchte Fryda, das Schwert noch immer erhoben.
Holdine stützte sich auf ihre Klinge, Schweiß und Blut auf der Stirn. „Vielleicht… aber um welchen Preis?“
Der Staub senkte sich. Die Knochen lagen still. Doch jeder im Gang wusste: Das Ende dieses Kampfes war nicht ihr Verdienst allein – es war ein Eingriff von Kräften, die keiner von ihnen verstand.
Und Cjendadz, der noch immer zitterte, spürte tief in sich, dass er etwas berührt hatte, das nicht vergessen würde, dass es berührt worden war.
Sie hielten inne. Schwer atmend, Schweiß und Blut auf den Gesichtern, die Waffen noch erhoben, obwohl kein Gegner mehr stand. Nur die Knochen lagen verstreut, gebrochen, stumm.
Langsam senkte Holdine ihr Schwert, stützte sich schwer darauf. „Wir… leben noch.“
„Gerade so,“ knurrte Fryda, deren Hände noch immer zitterten, während sie die Klinge an ihrem Umhang abwischte.
Krexila ließ sich gegen die Wand sinken, das Kurzschwert auf den Knien. „Ich habe gedacht… wir schaffen es nicht.“
Zoltian setzte sich einfach mitten in den Staub, rieb sich über das Gesicht. „Das war zu nah.“
Tsaluah stand still, die Federn straff, die Augen tief im Schein der Fackeln. „Es war nicht euer Kampf, der euch gerettet hat. Es war eine Bindung, die nicht euch gehörte.“
Cjendadz starrte noch immer auf seine Hände, als erkenne er sie nicht mehr. „Ich habe etwas berührt… etwas, das nicht von mir war. Es hat mich gehört. Und gehorcht.“
Niemand antwortete. Die Worte hallten in der stickigen Luft nach, schwerer als der Staub.
Dann sank die Gruppe schweigend nieder, jeder dort, wo der Gang Platz bot. Die Fackeln brannten weiter, warfen flackernde Schatten auf Knochen, die endlich still lagen.
Für einen Moment war der Turm stumm – doch keiner von ihnen glaubte, dass die Stille Frieden bedeutete.