Kapitel 17
Nyara
Der Aufstieg durch die gewundenen Gänge des Turmes schien länger, als der Weg hinab je gewesen war. Jeder Schritt hallte nach, als wollten die Mauern selbst prüfen, ob jene, die in ihrem Inneren etwas geweckt hatten, auch wieder gehen durften. Die Fackeln warfen unstete Schatten über feuchte Steine, und in den Gesichtern der Gefährten lag noch die Anspannung des Kampfes.
Nyara stützte sich auf Holdines Arm. Ihre Bewegungen waren unsicher, doch nicht schwach – eher wie die eines Menschen, der nach langer Zeit im Dunkel das Licht neu lernen musste. Die Funken, die beim Zerbrechen der Lichtglocke über ihre Haut getanzt hatten, waren erloschen, aber sie hinterließen etwas wie eine unsichtbare Glut in ihrem Blick.
„Wie lange…?“ Ihre Stimme war brüchig, dennoch klang sie nicht ängstlich, sondern suchend.
„Über ein Jahrhundert,“ antwortete Tsaluah, dessen Augen matt glimmten. „Dein Atem wurde von Bannfäden gehalten, während draußen Generationen gingen.“
Die Frau blieb stehen. Ihre Finger glitten über die kalte Mauer, als könne sie die Zeit darin spüren. „Ein Jahrhundert… dann ist niemand mehr, der nach mir fragt.“ Ein leises Lächeln, das eher Trauer als Freude war, huschte über ihr Gesicht. „Sie werden mich längst beerdigt haben – ohne Grab.“
Fryda strich sich den Schweiß von der Stirn. „Wer bist du?“
Nyara richtete sich auf, so sehr sie konnte. „Nyara von Orvath, Tochter einer Linie, die einst Land und Titel trug. Ich war jung, als der Turm mich rief. Zu jung, um zu ahnen, dass er nicht nur Mauern, sondern auch Hunger barg.“
„Und jetzt?“ fragte Krexila.
Nyara sah sie fest an. „Jetzt gehe ich meinen Weg. Ich werde meine Nachfahren suchen – wenn sie noch leben. Und wenn nicht, finde ich vielleicht wenigstens ihre Gräber.“
Einen Augenblick lang war nur das Tropfen aus den Mauerritzen zu hören. Dann nickte Holdine langsam. „Es ist dein Weg. Und er gehört nur dir.“
Keiner widersprach, keiner bot Begleitung an. Alle spürten, dass hier kein Platz für Gefährten war. Sie hatte genug Zeit verloren, und niemand von ihnen wollte sie erneut fesseln – sei es durch Sorge oder durch Pflicht.
Als sie den Turm verließen, lag die Nacht über dem Wald. Sterne standen klar über den Kronen, der Wind trug den Geruch von feuchtem Moos und Asche. Nyara blieb einen Atemzug lang stehen, sah zurück auf den grauen Schaft des Turmes, dann atmete sie tief ein.
„Er hat mich nicht verschlungen,“ sagte sie leise. „Also wird er auch nicht mein Gefängnis bleiben.“
Sie schob die Haare zurück, richtete ihre Haltung und wandte sich ab. Ohne Abschiedsgesten, ohne Umarmung, nur mit einem knappen Blick, der zugleich Dank und Entlassung bedeutete. Dann ging sie den Pfad hinab, allein, in die Dunkelheit, die nicht mehr Fessel, sondern Freiheit war.
Die Gefährten schauten ihr nach, bis die Schatten sie aufnahmen. Niemand sprach das Offensichtliche aus: dass dies der letzte Augenblick war, in dem sie Teil ihres Weges war. Und keiner empfand das als Verlust.
Denn so sollte es sein.