Kairos Prime



Kapitel 16

Der Saal der Bindungen

Der Flügelschlag der Pforte ließ den Fackelschein flackern. Dahinter lag ein Saal, so hoch, dass die Decke im Dunkel verschwand. Der Boden war eine glatte, schwarze Fläche, durchzogen von Mosaiklinien, die das Licht in dünnen Schimmerfäden zurückwarfen. Rechts vom Eingang standen steinerne Tröge mit einer leuchtenden Flüssigkeit, die in langsamem Puls atmete; daneben Regale voller Phiolen, Kelche, Röhren, als hätte jemand die Werkzeuge eines gescheiterten Weltbaus fein säuberlich sortiert zurückgelassen.

Doch es war die Stirnseite, die ihren Schritt stocken ließ.

Links, auf einem Podest, spannte sich ein Käfig aus silbrigem Gitter — nicht geschmiedet, sondern wie zu Linien geronnenes Licht. Dahinter stand ein Wesen, höher als zwei Männer übereinander. Es hatte die Gestalt eines Menschen und doch keine: Der rechte Arm loderte, der linke tropfte Wasser, über der Brust liefen Risse wie in geschmolzenem Gestein, und ein konstanter Wind strich an seinen Flanken entlang, ließ Funken und Tropfen zugleich davonwehen. In seinem Innern arbeitete die Welt gegeneinander.

Rechts, auf einem zweiten Podest, ruhte eine Frau. Sie lag auf einer steinernen Bahre, umschlossen von einer durchsichtigen Glocke aus Licht, in der feine Runen schwebten und wieder vergingen. Ihr Haar lag wie Kupfer im Dämmer, die Lider geschlossen, der Atem ruhig. Keine Fessel berührte ihren Körper—und doch hielt ihn etwas fester als Eisen.

„Nichts hier ist im Gleichgewicht,“ flüsterte Tsaluah. Es hob eine Hand, als lausche es in ein Nest aus unsichtbaren Fäden. „Bindungen, gegeneinander verdreht… und ein geteilter Kern.“ Sein Blick glitt von der Schlafenden zu der Chimäre im Käfig. „Dieselbe Seele. Zwei Körper.“

„Nyssareth verbogen,“ murmelte Cjendadz. Die Fackel in seiner Hand zitterte. „Genau so.“

Sie verteilten sich, wie sie es gelernt hatten: Holdine vorn, das Schwert tief; Fryda auf Deckung, die Klinge frei; Krexila seitwärts, Bogen halb gehoben; Zoltian nahe der Bahre; Tsaluah neben Cjendadz, der die Luft mit einem suchenden Finger teilte, als wühlte er im Wasser eines schwarzen Brunnens.

„Erst die Frau,“ sagte Holdine. „Dann denken wir über das Ding dort nach.“

Zoltian nickte, sprang die Stufen des Podests hinauf und legte die Hand an die Lichtglocke. Die Haut seiner Finger kribbelte. „Sie hält,“ zischte er. „Wie harter Nebel.“

„Vorsichtig,“ warnte Krexila - zu spät. Als Zoltian mit der flachen Hand prüfend Druck gab, lief ein Riss durch das Licht, lautlos zuerst, dann mit einem feinen, glasigen Klingen. Die Runen in der Glocke stoben auseinander wie aufgescheuchte Glühwürmchen.

Ein einziger Ton spannte sich durch den Saal - hoch, metallisch, wie wenn eine Saite reißt.

Die Glocke brach in sich zusammen. Funken tanzten über Nyaras Haut, ihr Atem stockte, die Lider flackerten und öffneten sich. Grün, weit, verwirrt. Ein Hauch von Angst. „Wer…?“ Ihre Stimme war rau, als käme sie von weit her.

Im selben Herzschlag flackerte der Lichtkäfig auf. Die Gitterlinien verloren ihre Härte, wurden dünn wie Regen. Das Elementwesen hob den Kopf. Feuer auf der einen Seite, Wasser auf der anderen, Stein in der Mitte, Wind als Hauch darüber. Die Geräusche des Saales—Knistern, Zischen, Mahlen, Pfeifen—stürzten übereinander und wurden zu einem einzigen brüllenden Klang.

„Zurück!“ rief Holdine. „Zoltian, die Frau! Fryda, flankieren! Krexila, vergiss den Bogen, nimm Stahl!“

Sie bewegten sich. Zoltian hob Nyara halb, die Beine der Frau gehorchten, aber nur widerwillig. „Es zieht noch,“ keuchte sie, als zerrte etwas Unsichtbares an ihrem Innern und drüben, im Käfig, antwortete ein Rucken, als ob die Chimäre den selben Zug fühlte.

Cjendadz hob die freie Hand, die Finger spreizten sich, als griffen sie nach einer unsichtbaren Schnur. „Wenn ich den Faden finde, der sie verbindet—“

„Du brichst daran,“ schnitt Tsaluah ihn ab, ohne den Blick vom Wesen zu lösen. „Wir brauchen nicht Trennung, wir brauchen Weg.“

Der Käfig gab nach. Ein Gitterstab schmolz, Tropfen fielen zischend auf den schwarzen Boden und verkrusteten zu zerrissenen Tropfen aus Metall und Stein. Die Chimäre trat vor, der Hauch ihres Windes fuhr durch die Tröge; die leuchtende Flüssigkeit darin kräuselte sich, begann zu kochen, ohne wärmer zu werden.

Fryda stürzte sich nach vorn, Schwert quer, eine Geste, eine Verzweiflung. Als die Klinge den Feuertorso traf, krümmte sie sich im Hitzeflimmern, doch Fryda nutzte den Schwung, riss die Waffe tiefer und traf auf Stein: ein Riss, eine Splitterspur, ein Schrei, der wie Sturmböen und siedendes Wasser zugleich klang. Funken schlugen, Tropfen spritzten. „Nichts als Zeit gekauft!“ keuchte sie, sprang zurück.

Krexila warf den Bogen fort, stieß mit dem Kurzschwert nach, nicht in den Leib, sondern gegen einen der letzten Gitterreste. Metall riß, der Weg war frei.

„Raus!“ brüllte Holdine. „Zum Tor!“

Sie rannten. Zoltian stützte Nyara, die mit zusammengebissenen Zähnen ging; Cjendadz hielt die Fackel hoch und sah im Augenwinkel, wie Linien im Mosaikboden aufleuchteten, als merke sich der Saal jeden Schritt. Tsaluah lief seitlich, das Wesen im Blick, und sprach kein Wort: seine Krallen zeichneten Formeln in die Luft, aber die Luft zog sie auseinander, als wollte sie nichts mehr tragen, was der Ordnung diente.

Die Chimäre setzte nach. Jeder Schritt veränderte sie: einmal schob sich ein Windstoß unter ihre Füße, ließ sie schweben; einmal stampfte sie, und der Boden dröhnte, als wäre da ein Berg; einmal sprangen Flammen vor, dann brach eine Flut aus ihrem Arm, die mitten im Wurf zu Dampf wurde und verschwand.

„Bleib bei mir!“ Holdine packte Nyara am Arm, zog sie über die Schwelle des Portals. Hinter ihnen barst eine der steinernen Tröge, die leuchtende Flüssigkeit ergoss sich knisternd über den Boden, fraß sich als dünner Lichtfilm die Mosaiklinien hinab und wo sie die Spur der Chimäre berührte, zischte etwas, als streite zwei Gesetze um denselben Platz.

Dann lagen Portal und Drachenstatuen vor ihnen. Der Nebel über dem Bach war dichter als zuvor. Das Grollen der Chimäre füllte den Raum.

„Sprung!“ rief Krexila. „Jetzt!“

Fryda sprang zuerst, landete kniend, rollte, wieder hoch. Holdine setzte über, zog Nyara nach, deren Fuß auf der Kante wegrutschte, Zoltian war da, Hände an ihren Hüften, ein Ruck, sie fiel ihm entgegen. Tsaluah sprang mit einem knappen Satz, kaum Geräusch, nur ein Flügelschlag von Federn im Luftzug. Cjendadz als Letzter, die Fackel vor die Brust gepresst, die Sohlen glitten am nassen Stein, eine Hand griff nach ihm, Krexilas Finger, ein Zerren, ein fluchendes „Hab dich!“ und er war drüben.

Das Portal bebte. Die Chimäre trat bis an die Schwelle, füllte sie mit Feuer, Wind, Wasser, Gestein. Der Blick, wenn es den gab, war keiner, und doch spürten sie ihn wie kalte Hitze auf der Haut.

„Sie wird folgen,“ hauchte Nyara. Ihre Stimme war jetzt klarer, aber dünn. „Sie muss... solange ich…“

„Nicht mehr lange,“ sagte Tsaluah leise. „Schau.“

Das Wesen setzte den Fuß in den Bach.

Die Strömung sah aus wie gewöhnliches Wasser. Doch in ihr lag die alte Bindung des Ortes, die unter dem Turm verborgen floss, Fels und Quelle, Dunkel und Atem, in ihrem eigenen Maß. Der Bach nahm nichts an, das sich selber widersprach.

Als das Elementewesen den ersten Schritt ins Wasser tat, veränderte sich sein Klang. Das Zischen wurde zum Pfeifen, die Flammen griffen am eigenen Dampf vorbei ins Leere; der Wind, der es trug, fand nichts mehr zum Greifen; das Gestein in seiner Brust krümmte sich, als hätte jemand den Faden herausgezogen, der es zusammenhielt. Es setzte den zweiten Schritt. Der Bach wölbte sich nicht, er stand einfach da, und was in ihn trat, musste werden, was hier galt.

Ein Schrei riss durch die Kammer, ein Chor aus Brand, Gischt, Splittern und Sturm. Dampf stieg auf, dick, weiß, das Portal wurde zu einer hellen Wolke. In ihr knallte es, als platzten große Blasen, dann klirrte es, als ob Glas zerfällt. Ein letzter, hoher Ton, fast wie die gerissene Saite von vorhin und Stille. Der Nebel wehte davon.

Auf der Wasseroberfläche trieben dunkle Schuppen von etwas, das wie verbrannter Stein aussah, und schimmernde Schlieren, als ob Wind sich festgelaufen hätte. Das Wasser nahm sie, zerlegte sie, trug sie fort.

Die Gefährten standen am Ufer, keuchend, die Waffen halb erhoben, obwohl nichts mehr kam.

Nyara lehnte an Holdine, die Hand über der eigenen Brust. „Es… ist still,“ sagte die Frau, als ob sie in sich hinein horche. „Das Ziehen ist fort.“

„Nicht fort,“ murmelte Cjendadz, die Fackel sinken lassend. „Gelöst. Hier gilt der Bach, nicht der Wille eines Toten.“

Tsaluah nickte knapp. „Der Ort hat sein Recht genommen.“

Zoltian atmete aus, ein raues Lachen in seinem Husten. „Ich nehme das als ja: Wir leben.“

Krexila hob den Bogen wieder auf. „Und wir gehen. Bevor der Saal sich an uns erinnert.“

Holdine sah ein letztes Mal über den Bach, zurück durch das Portal in die hohe Dunkelheit, in der der Saal lag. „Kavorh Nyths Werk ist gebrochen.“ Dann wandte sie sich um. „Jetzt bringen wir Nyara ans Licht.“

Sie machten sich auf den Rückweg, einer nach dem anderen, mit dem dumpfen Bewusstsein, dass der Turm hinter ihnen nicht nur Mauern war, sondern eine Geschichte, die sie angerührt hatten und die sie nun mitschleppten wie einen Geruch an den Kleidern. Doch zum ersten Mal seit dem Fall der Pforte atmete der Gang nicht gegen sie.

Der Weg nach oben würde noch lang sein. Aber er führte hinaus. Und die Bindungen hielten, endlich auf ihrer Seite.