Kairos Prime



Kapitel 14

Das Arbeitszimmer

Der Vorhang raschelte leise, als sie ihn zur Seite schoben. Ein feuchter Hauch wehte ihnen entgegen, modrig und schwer, als hätte der Raum selbst Jahrhunderte lang den Atem angehalten. Das bekannte Knistern war wieder da, diesmal näher, kaum mehr zu überhören – wie glimmende Funken, die im Stein gefangen waren.

Der Raum war größer als das Schlafgemach des Magiers. Zu beiden Seiten erhoben sich Regale, die unter der Last ihrer Inhalte ächzten. Links standen Bücher, dicht an dicht, erstaunlich ordentlich, nur eine schmale Lücke klaffte in der mittleren Reihe. Rechts dagegen: Reihen von Flaschen, Gefäßen und seltsamen Apparaturen, die im Fackelschein schimmerten. Manche Gläser waren klar, andere trüb, wieder andere mit Ablagerungen verkrustet. Ganz oben auf den Brettern schimmerten dunkle Behälter, und darin schwammen Gestalten: Vögel mit gespreizten Flügeln, eine Schlange mit offenem Maul – und ein kleines echsenartiges Wesen, kaum so groß wie ein Unterarm, dessen glasige Augen das Licht seltsam zurückwarfen.

Krexila sog scharf die Luft ein. „Er hat Tiere gesammelt… und sie in Flüssigkeit ertränkt.“

„Nicht gesammelt,“ korrigierte Holdine leise. „Studiert.“

Zoltian verzog das Gesicht. „Wohl kaum fürs Kochbuch.“

Sie gingen weiter. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, übersät mit Papieren, Schriftrollen und Geräten. Ein Tintenfass, kunstvoll verziert, stand noch bereit, darin eine Feder, deren Spitze schwarz verkrustet war. Daneben ein Öllicht, längst verloschen, und Glasgefäße mit eingetrockneten Resten, deren Gestank selbst nach Jahrhunderten noch scharf in der Luft hing.

Fryda nahm eines der zerknitterten Blätter auf. Es zerfiel in ihren Händen zu Staub. „Alles verrottet.“

„Nicht alles,“ sagte Holdine und hob eine Schriftrolle auf, die überraschend fest war. Sie breitete sie auf dem Tisch aus, strich vorsichtig den Staub fort und begann zu lesen.

Die ersten Zeilen waren unkenntlich, von Wachsresten überzogen. Doch der untere Abschnitt war noch zu entziffern.

„Mein Werk bleibt unvollständig. Es hat keinen Willen, kein Bewusstsein, gleich, was ich versuchte.
Mir bleibt nur ein letzter Weg: das Opfer eines Menschen, ob freiwillig oder gezwungen, um die Hülle zu füllen.
Alles ist bereitet, ich bin zuversichtlich – etwas Großes kündigt sich an.
Doch der letzte Schritt ist der schwerste. Die Übertragung zehrt an mir, sie kostet jede Faser meiner Kraft. Die Seele bäumt sich gegen meine Worte auf, und mein Griff ist noch zu schwach. Aber morgen werde ich es vollenden: Dann zwinge ich das Unsterbliche in mein Geschöpf. Dann wird es leben – und ich werde der Herr neuen Lebens sein, jenseits aller Grenzen.
Die, die sich Hüter nennen, sollen ihre Warnungen behalten – mein Werk wird sie verhöhnen. So spricht Kavorh Nyth, der Ungebrochene, der Meister der verborgenen Bindungen.
Morgen… ja, morgen ist es soweit. Wenn nur dieses Brennen in meiner Brust mich nicht schwächt. Ich darf nicht vergessen, mir einen neuen Trank zu weben. Ich werde jede Kraft brauchen.“

Die Worte hingen wie Blei im Raum.

Cjendadz starrte auf die Schriftrolle, als könnte er darin etwas erkennen, das den anderen verborgen blieb. Seine Lippen bewegten sich stumm, als würde er die Zeilen nachsprechen. „Er hat versucht, die Seele zu reißen,“ flüsterte er schließlich. „Sie herauszulösen. In etwas zu zwingen, das er selbst erschaffen hatte.“

„Unmöglich,“ sagte Holdine scharf. „Ein Frevel. Selbst die Priester würden davor zurückschrecken.“

„Und doch…“ Cjendadz’ Augen glühten fiebrig. „Ich spüre es in den Worten. Er war nahe dran. Die Bindungen… sie haben sich gegen ihn gewehrt, aber er hatte sie fast gefasst.“ Er fuhr sich über die Stirn, Schweiß glänzte im Fackelschein. „Es ist… derselbe Strom, den ich im Gang gespürt habe, als die Knochen aufhörten, sich zu regen. Dasselbe – nur tiefer, stärker.“

„Vorsicht,“ warnte Tsaluah, die Federn gesträubt. „Das sind Fäden, die nicht dir gehören. Sie sind verdorben, sie schneiden in alles, was sie berühren. Er hat den Abgrund geöffnet, und er starb daran.“

Fryda knurrte, griff nach der Rolle, wollte sie zerreißen. Doch sie zerfiel schon in ihren Händen zu Staub, als hätte sie nur auf die Berührung gewartet. Ein Windstoß ließ die grauen Flocken durch den Raum wirbeln, ehe sie im Staub des Bodens verschwanden.

„Staub,“ murmelte Krexila. „Am Ende ist es alles nur Staub.“

Doch Cjendadz stand noch immer reglos da, die Hände zitternd. „Nein,“ flüsterte er. „Nicht Staub. Es lebt noch. Nicht hier, nicht jetzt – aber es hat Spuren hinterlassen.“

Sie wandten sich der Stirnwand zu. Dort erhob sich eine halbrunde Nische, und darin stand ein Skelett – aufrecht, als wäre es lebendig. Doch keine Sehnen hielten die Knochen zusammen. Stattdessen spannte ein eiserner Rahmen sie in Form, als hätte der Magier den Tod gezwungen, zu bleiben.

Fryda hob das Schwert. „Es bewegt sich nicht?“

„Nein,“ sagte Cjendadz nach einem prüfenden Blick. „Es ist gebunden. Ein Studienobjekt.“

„Studium,“ wiederholte Fryda mit einem Ausdruck von Abscheu. „Er hat den Tod zum Spielzeug gemacht.“

Über dem Gestell hing eine große Schautafel. Im Licht der Fackeln erkannten sie die Zeichnung: ein menschlicher Körper, ohne Haut, die Muskeln und Organe sauber und präzise dargestellt. Adern verliefen wie Linien, so klar, dass es beinahe lebendig wirkte.

Krexila wandte den Blick ab, das Gesicht bleich. „Wie ist er an dieses Wissen gekommen?“

„Nicht durch Einsicht,“ antwortete Holdine hart. „Durch Raub. Immer durch Raub.“

Cjendadz trat näher, beinahe ehrfürchtig, und fuhr mit den Augen über die Linien. „Aber er verstand… Er wusste Dinge, die wir nur ahnen. Er war zu nah.“

„Zu nah an der Nyssareth,“ schnitt Holdine ihm das Wort ab. „Und so ist er gefallen.“

Für einen Augenblick war nur das Tropfen zu hören, irgendwo hinten im Raum. Jeder Atemzug schien das Gewicht von Jahrhunderten zu tragen.

Sie durchsuchten die Regale weiter. Viele Bücher zerfielen schon bei der Berührung, andere hielten wider Erwarten stand. Ihre Titel flüsterten von verbotenen Wegen: Encyclopaedia Kynéxis, Die Bindungen ohne Namen, Alchemistische Exkurse.

Tsaluah hielt inne, die Federn aufgerichtet. „Die Bindungen hier sind krank. Sie sind wie verkrustete Wunden, die nicht heilen. Alles in diesem Raum trägt die Narben seines Tuns.“

„Narben, die noch immer bluten,“ murmelte Krexila.

Da wehte wieder ein Luftzug durch den Raum. Ganz schwach, aber feucht und kühl. Er kam von der linken Seite des Bücherregals, dort, wo die schmale Lücke klaffte.

Zoltian legte die Hand auf die Bände. „Hier. Etwas ist verborgen.“

„Und ich wette, der Schlüssel ist das Buch,“ knurrte Fryda und hob den roten Einband, den sie seit dem Schlafraum trugen.

Cjendadz stellte ihn in die Lücke. Für einen Augenblick geschah nichts. Dann, leise, als atmete der Stein, schob sich das Regal auseinander. Ein Spalt tat sich auf, schmal, gerade breit genug für einen Menschen.

Ein neuer Luftzug drang heraus – feucht, kalt, fremd. Und das Knistern war jetzt so nah, dass es wie ein Flüstern direkt in ihren Köpfen lag.

Sie standen an der Schwelle.